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Lieferengpässe: Es knappt an allen Ecken

Die Pandemie hat uns viele Lieferengpässe bei Arzneimitteln beschert. Doch mit dem Ende der Pandemie löst sich das Problem nicht von selbst. Die Politik tut sich schwer mit Antworten.

Philipp Grätzel von Grätz

Große Universitätskliniken in Deutschland sind im Schnitt mindestens hundertfünfzig Mal im Jahr von Lieferengpässen betroffen. Das schätzt Prof. Dr. Frank Dörje, bis vor Kurzem Chefapotheker am Universitätsklinikum Erlangen. Diese Schätzung stammt von 2021. Aber Dörje wies schon damals darauf hin, dass die Pandemie das Problem nur akzentuiert habe. Und tatsächlich: Mit dem Abklingen der Pandemie erreichten die Lieferengpässe sogar eine neue Dimension. Waren es in der Pandemie vor allem stationäre Antibiotika und intensivmedizinische Medikamente wie Propofol und Midazolam, die knapp waren, betraf es im Winter 2022/2023 Ibuprofen-Saft und andere Medikamente für ambulante Infektionen, während sich in den Kliniken die Antibiotikaengpässe akzentuierten. Ein Dauerbrenner in Sachen Arzneimittelknappheit ist außerdem das Brustkrebsmedikament Tamoxifen.

 

Warum gibt es überhaupt Lieferengpässe?

Lieferengpässe bei Arzneimitteln habe viele Gründe, darauf weisen Apotheker und Hersteller immer wieder hin. Ein Kernproblem sind die starken Konzentrationseffekte im Markt für Generika, die dazu geführt haben, dass es eine erhebliche Abhängigkeit von Asien und hier insbesondere von China und Indien gibt. Nach Angaben des Herstellerverbands Pro Generika kommen etwa zwei Drittel der in Deutschland benötigten Arzneimittelwirkstoffe aus China und Indien. Dies ist eine Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte, was insofern tragisch ist, als es an Stimmen, die davor gewarnt haben, die „Apotheke der Welt“ von Europa nach Asien zu verlegen, nie gemangelt hat.

Ein Problem ist vor allem die Zentralisierung bei der Wirkstoffherstellung: „In einigen Fällen gibt es nur sehr wenige Wirkstoffhersteller, und wenn dann Einer Probleme hat, wird es eng“, so Dörje. Der Klassiker sei Piperacillin/Tazobactam ein wichtige Krankenhausantibiotikum: „Da gibt es zwei Hersteller, einer in China mit 70% Marktanteil und einer in Norditalien mit 30% Marktanteil. Als in China die Kläranlage einer Fabrikanlage explodiert ist, waren schlagartig 70% nicht mehr vorhanden.“

 

Problemzone China

Einer von mehreren Auslösern von Engpässen während der Pandemie war Dörje zufolge zeitweilig die Entscheidung Indiens, bestimmte Medikamente, nur noch eingeschränkt zu exportieren. Dieses Problem war relativ kurzlebig. Mehr Sorgen machen sich Experten über China. Bei einer Podiumsdiskussion zur Abhängigkeit von China im Arzneimittelbereich in Berlin betonte Dr. Tim Rühlig von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, dass Handeln angesichts der geopolitischen Großwetterlage dringend geboten sei: „Wir müssen nicht zurück in die Steinzeit. Es geht darum, sehr gezielt kritische Abhängigkeiten zu reduzieren.

Dass sich so viele Hersteller bereitwillig in die Abhängigkeit von China begeben haben, begründete Peter Stenico, Vorstandsvorsitzender von Pro Generika, mit massiven Bemühungen des chinesischen Staats, die Arzneimittelproduktion auszubauen. Anders formuliert: Wer in China produziert oder produzieren lässt, spart viel Geld, was wiederum in Märkten wie Europa hilft, als Hersteller zum Zug zu kommen: „Solange in Europa nur der Preis zählt, wird jede Firma immer nur schauen: Wie kann ich meine Kosten optimieren?“, so Stenico.

 

Wie konnte es so weit kommen?

Geht es auch anders? Es geht, aber es ist nicht einfach, und es geht nicht bei allen Medikamenten gleich gut. Ein Beispiel ist das Unternehmen ORION Pharma, das nicht nur Fertigarzneimittel produziert, sondern auch zahlreiche aktive pharmazeutische Inhaltsstoffe, und zwar in Finnland. Das Unternehmen ist damit unabhängiger als andere Hersteller von globalen Lieferketten und kann auch mal aushelfen, wie zuletzt mit Tamoxifen, wenn es in Deutschland zu Lieferengpässen kommt.

Ein anderes Unternehmen, das sogar ausschließlich in Europa produziert, ist EuroAPI. Dessen Vorstand Dr. Kai Rossen betonte bei der Podiumsdiskussion, dass Produktion in Europa immer dann gut funktioniere, wenn es um etwas komplexere Produkte gehe. Rossen hat eine Erklärung dafür, wie es passieren konnte, dass Europa in die starke Abhängigkeit von Asien und insbesondere China rutschte: „Meiner Meinung nach gab es in Europa eine Art „benign neglect“. Die Erkenntnis, dass das nicht weise ist, führt vielleicht in Zukunft dazu, dass wieder mehr in Europa produziert wird.“ Das werde aber nur dann passieren, wenn dafür auch die Rahmenbedingungen geschaffen werden. Es gehe nicht einfach nur um Fabriken, sondern auch um Wissen, um Regulatorik, um Verständnis für Qualität: „Wir können als Industrie mehr machen, es muss aber auch gewollt werden“, so Rossen.

 

Mehr Anreize für Produktion in Europa und für Lieferdiversität

Die Politik hat das Problem im Prinzip erkannt und will gegensteuern. Dass es nötig ist, den Preisdruck im Generikamarkt zu reduzieren, das Herstellerspektrum zu verbreitern und die Produktion in Europa zu incentivieren, zum Beispiel durch entsprechende Gestaltung von Rabattverträgen, dass ist in der Theorie mittlerweile weitgehend Konsens. Die Frage ist, wie groß die Bereitschaft ist, das dann auch wirklich politisch umzusetzen. Denn wenn mehr in Europa produziert wird, werden die Preise steigen.

In Deutschland hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach Ende 2022 die Eckpunkte eines „Generikagesetzes“ vorgelegt, die zu diesem Zeitpunkt sehr positiv bewertet wurden. Daraus wurde dann der Entwurf für das „Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln“ (ALBVVG). Dieser Entwurf erhielt punktuell Lob, vor allem aber viel Kritik – so viel, dass die geplante Verabschiedung im Bundeskabinett am 29. März 2023 kurzfristig verschoben wurde.

 

Made in Finland

Für ORION Pharma heißt „Verantwortung für Lieferketten übernehmen“, sich in seinem Heimatmarkt Europa zu engagieren und dieses Engagement auszubauen. ORION Pharma produziert nicht nur Fertigarzneimittel, sondern auch ein breites Spektrum an aktiven pharmazeutischen Inhaltsstoffen in Europa, konkret in Finnland, und deckt damit einen großen Teil des Arzneimittelportfolios in Eigenregie ab. Somit ist man unabhängiger von globalen Lieferketten im Vergleich zu anderen Herstellern.

Kleine licht-bewaldete Felseninsel mit zwei roten Holzhäusern  im Hintergrund Hafen und Industrie

Industrie und Idylle - in Finnland in enger Nachbarschaft.

 

Der ALBVVG- Entwurf tut sich schwer

Die Verabschiedung des ohnehin schon deutlich modifizierten Gesetzentwurfs durch das Kabinett dürfte jetzt im Laufe des Aprils erfolgen, sodass das ALBVVG dann im späteren Frühjahr in die parlamentarische Abstimmung gehen kann. Lob erhält der Gesetzentwurf dahingehend, dass es in Rabattverträgen für Generika künftig verstärkt auch um eine Diversifizierung von Produktion und Lieferketten gehen soll. Bei Kinderarzneimitteln sollen Rabattverträge ganz abgeschafft werden, die Marktransparenz soll erhöht werden, und Zuzahlungsbefreiungsgrenzen sollen schon etwas früher greifen, um den extremen Kostendruck abzumildern.

All diese Maßnahmen sollen sich aber – das ist der Hauptkritikpunkt – auf einen nur kleinen Anteil des Marktes beschränken, nämlich auf Antibiotika, Onkologika und Kinderarzneimittel.  Dr. Kai Joachimsen, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der pharmazeutischen Industrie, drückt es so aus: „Der Effekt des Gesetzes bleibt gering, solange sich die geplanten Maßnahmen gerade einmal auf etwa ein bis zwei Prozent der Arzneimittel beziehen und gleichzeitig Rabattverträge, Preisobergrenzen und Herstellerabschläge fortbestehen. Nachhaltige Versorgungssicherheit erreichen wir nur, wenn verschiedene ineinandergreifende Maßnahmen den Kostendruck in der gesamten Grundversorgung senken.“

 

Number of CEPs

Europa, Asien und die Wirkstoffproduktion. Dargestellt sind die Certificates of Suitability (CEP), die bestätigen, dass ein Wirkstoff in seiner Qualität der entsprechenden Monografie des Europäischen Arzneimittelbuchs entspricht. Im Jahr 2000 wurden knapp zwei Drittel der CEP von europäischen Wirkstoffherstellern gehalten. Seither hat sich dieses Verhältnis mehr als umgedreht.1

Schon gewusst?

  • Für 56 % aller aktiven pharmazeutischen Inhaltsstoffe (API, „Wirkstoffe“) gibt es nur fünf oder weniger Certificates of Suitability (CEP), also Qualitätsbescheinigungen gemäß europäischem Arzneimittelrecht. Das heißt: Die Zahl der Hersteller weltweit ist sehr klein.1
  • Bei etwa 25 % aller API gibt es sogar nur ein oder zwei CEP. 1
  • Der Trend zur Wirkstoffherstellung in Asien hat sich zwischen 2010 und 2020 nochmals beschleunigt. Wurden im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts rund 40–60 % aller CEP von asiatischen Herstellern initiiert, waren es im zweiten Jahrzehnt 60–80 %.1

 

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  1. Mundi Care Life Science Strategies. Where do our active pharmaceutical ingredients come from? – A world map of API production.